Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.
Ich liege seit 2,5 Stunden wach im Bett (es ist 4:00 Uhr) und in meinem Kopf dreht sich alles.
Gestern, streng genommen vorgestern, ist mein Vater gestorben.
Ich bin so traurig – aber auch erleichtert. Nachdem mir ein paar Leute gesagt haben, dass ich das fühlen darf, traue ich mich jetzt auch das nieder zu schreiben. Ein schlechtes gewissen habe ich trotzdem.
Mein Vater war krank, sehr krank.
Begonnen hat es vor etwa 17 Jahren. Da wurde ihm, ich weiß gar nicht mehr warum, die Milz entfernt. Nichts tragisches, aber damit hat es begonnen.
Dann kam der erste Herzinfarkt, der erste Schlaganfall, der zweite Herzinfarkt und der zweite Schlaganfall. Alles ohne bleibende Schäden, zumindest ohne körperliche.
Vor acht Jahren im Sommer dann die Diagnose Knochenmarkkrebs. Unheilbar, weil da ja nichts ist, was man wegschneiden kann, bestrahlen kann. Es folgte eine schlimme, schlimme erste Chemotherapie. Inklusive Hochdosistherapie, wo er abgeschottet von allen lag, weil er kein Immunsystem hatte, man nur zu ihm durfte, wenn man sich umgezogen und vermummt hatte.
Als ich ihn das letzte mal in diesen keimfreien Zimmer besucht habe, war ich schwanger mit meiner ersten Tochter. Die es wohl nie gegeben hätte, wäre er nicht krank geworden. Ich weiß noch, wie ich zwei Tage nach der Diagnose bei meiner Freundin gesessen bin, wir beide heulend, weil mein Vater meine Kinder nicht kennen lernen wird. Kinder, die ich bis dahin noch gar nicht haben wollte.
Ich weiß auch noch, wie mein Vater Tränen in den Augen hatte, als wir im von der Schwangerschaft erzählt haben.
Irgendwann war die Chemotherapie doch zu Ende. Und entgegen allen Statistiken war der nächste Krebsausbruch erst drei Jahre später.
Zur gleichen Zeit, als ein österreichischer Musiker ein Krebs gestorben ist. Was bei mir wieder Panik ausgelöst hat. Was, wenn mein Vater nicht bei meiner Hochzeit dabei sein kann? Eine Hochzeit, die noch gar nicht geplant war, man hat ja schließlich alle Zeit der Welt.
Also wird acht Wochen später geheiratet. Mehr oder weniger heimlich, im kleinen Kreis. Weil ich einerseits gar kein Tamtam brauche, aber andererseits ständig die Angst hatte, dass mein Vater nicht kann und wir absagen müssen. Er war ja schließlich wieder mitten in einer Chemotherapie. Und fast wäre es auch dazu gekommen, weil er vier Tage vor der Hochzeit ins Spital kam. Am Abend vor der Hochzeit kam er nach Hause.
Schon schwer gezeichnet von den Nebenwirkungen der Therapie. Sie wurde deshalb auch vorzeitig abgebrochen, weil seine Hände und Füße eine neuropathie entwickelt haben. (sagt man so? Ich weiß es nicht.)
Das bleib auch bis zuletzt, was für meinen Vater, der sein ganzes Leben mit seinem Händen gearbeitet hat, sehr schwer war. Er konnte mit Mühe noch einen Stift halten um seine sudokos zu lösen. Viel mehr als das, Fernsehen und ein- bis zweimal wöchentlich Karten zu spielen hat er die letzten Jahre nicht mehr gemacht.
Ich wollte vor zwei Wochen mit ihm schimpfen.
Denn als meine Mutter vor drei Wochen auf „Urlaub“ war (eine Reise mit ihren zwei 80jährigen Schwestern zurück in den Heimatort aus dem sie vertrieben wurden und wo sie danach in ein Konzentrati.onslager gesteckt wurden, dessen Reste sie auch besucht haben, fällt mir schwer als Urlaub zu bezeichnen), war mein Vater so aktiv, wie ich ihn schon lange nicht mehr gesehen habe. Zweimal war er bei mir essen, zweimal ist er zu Bekannten gefahren (!), meinen Bruder hat er in ein Lokal eingeladen, beim Friseur war er, beim Notar (etwas beim Testament ändern lassen…), ich habe ihn im Garten arbeiten gesehen.
Ich habe noch mit meiner Schwester gescherzt, dass er das jetzt nur macht, um sich sofort wieder auf das Sofa legen zu können, wenn meine Mutter zurück ist.
So war es dann auch in etwa.
Zu den gleichen Bekannten, zu denen er ein paar Tage vorher noch gefahren ist, ist meine Mutter nach ihrer Rückkehr alleine gefahren.
Als ich vorletzten Donnerstag zu ihnen gefahren bin und ich ihm eigentlich sagen wollte, dass ich das nicht in Ordnung finde, dass er nichts mit meiner Mutter unternimmt, war er nicht mehr da. In der früh ist er ohnmächtig geworden und wurde ins Spital gebracht. Mal wieder Lungenentzündung. Davon hatte er in den letzten Jahren viele.
Am Freitag ist meine Mutter vom Besuch bei ihm heim gekommen und hat gemeint, es geht ihm nicht gut. Am Samstag, als ich ihn zu Mittag besuchen wollte, hat sie mich angerufen, ich soll nicht mit den Kindern hingehen, er hustet Blut. Ich war dort, die Kinder waren vor der türe bei meinem Mann, und es war dann eigentlich nicht so schlimm.
Ich bin ja hingegangen in der annahme, es geht ihm so schlecht, ich sehe ihn zum letzten mal. Sein Anblick hat mich dann aber wieder aufgebaut. Er hing zwar an vielen Kabeln und Schläuchen, aber sah gut aus, war gut drauf und das Fieber war von 40 grad auf erhöhte Temperatur gesunken.
Ich war dann erst wieder am nächsten Samstag dort. Ich mag Spitäler nicht. Ich mochte aber noch viel mehr nicht die Ungewissheit, was einen erwartet wenn man rein geht. Geht es ihm gut? Oder nicht?
Und obwohl ich die Woche über, von Erzählungen meiner Mutter, dachte, es wird besser, fand ich das letzten Samstag nicht. Er hatte im ganzen Körper Wassereinlagerungen. Auch in der Lunge, weshalb er auch nur sehr schlecht Luft bekam. Und durch das wasser sah auch sein Gesicht verändert aus. Er sah krank, alt und arm aus.
Ich bin etwas traurig, weil das unser letztes treffen war. Es war noch ein Patient mit Besuch im Zimmer, meine Mutter war da – es war nicht ein verabschieden sondern nur ein Besuch eben. Wir sehen uns ja bald wieder.
(das treffen eine Woche davor war zumindest kurzzeitig intimer und darüber bin ich sehr sehr froh)
Montag morgen wurde mein Vater tot im Badezimmer aufgefunden. Wahrscheinlich war es das Herz.
Eine grauenhafte Vorstellung für mich, dass er alleine war, dass keiner bei ihm war. Und weil ich glaube, dass ich da schon länger lag. Das sagt zwar keiner, aber ich glaube es einfach.
Und noch immer, auch wenn die Traurigkeit immer größer wird, bin ich erleichtert. Er hatte ein glückliches leben, von den Krankheiten abgesehen. Er hatte eine ganz besondere familie, die ihm sehr viel bedeutet hat und er uns auch.
Und er hat alle meine drei Kinder kennen gelernt. Darüber bin ich unendlich froh.
Er wird mir so fehlen.